Dieser Text gehört zum Projekt „Über Utopie und Transformation neu nachdenken“.

…und ist eigentlich aus Versehen schon so zeitig gepostet worden. An der Numerierung sieht man, dass er logisch erst viel später geplant ist… Viele Bemerkungen und Begriffe nehmen Bezug auf vorherige, noch nicht veröffentlichte Teile. Also bitte gedulden und dann noch mal mitdenken…


Das Verhältnis zwischen einer Position bzw. einem Gegebenen und dessen Überschreitung wird von Hegel als „Grenze“ bzw. „Schranke“ diskutiert. Er geht von Spinozas Erkenntnis „Alle Bestimmung ist eine Negation“ aus (Omnis determinatio est negatio, vgl. HW 8: 196). Etwas hat seine wesentliche Qualität nur innerhalb seiner Grenze, die Qualität selbst ist diese Grenze: „Etwas ist durch seine Qualität das, was es ist, und indem es seine Qualität verliert, so hört es damit auf, das zu sein, was es ist.“ (ebd.: 195). Hegel verwendet an dieser Stelle übrigens eine schöne Lebensweisheit zur Illustration:

„Der Mensch, insofern er wirklich sein will, muß dasein, und zu dem Ende muß er sich begrenzen. Wer gegen das Endliche zu ekel ist, der kommt zu gar keiner Wirklichkeit, sondern er verbleibt im Abstrakten und verglimmt in sich selbst.“ (ebd.: 197).

Da es in der Welt nicht nur diese eine Qualität gibt, gibt es zwischen dem Etwas mit seiner bestimmten Qualität und allem anderen eine Grenze, genauer gesagt, seine Grenze gegenüber dem Anderen. Die eigene Bestimmtheit, die eigene Grenze setzt sich dem Anderen entgegen, es entsteht ein Widerspruch. Alles Endliche ist „mit seiner immanenten Grenze gesetzt als der Widerspruch seiner selbst, durch den es über sich hinausgewiesen und getrieben wird“ (HW 5: 139). Die Grenze ist „nicht ein Seiendes zwischen A und B, sondern das reine Zwischen-Sein“ (Holz 2003: 39). Die Grenzen schließen einen Körper nicht nur ein, sondern sie schließen ihn seinem Medium gegenüber auf (Plessner 1928/1981: 181). Das „Medium“ kann das Allgemeine gegenüber dem Besonderen sein. Die besondere Gesellschaftsform erweist sich als besonders durch ihre konkreten Bestimmungen. Als Besondere steht sie in Beziehung zu anderen Besonderen (im Allgemeinen), die selbst als konkrete bestimmt sind. Das Andere an der Grenze ist deshalb auch nichts Unbestimmtes, sondern selbst qualitativ konkret bestimmt. Indem sich die Qualität des Etwas und die des Anderen an der Grenze in Beziehung setzen, ist die Grenze zur überwindbaren Schranke geworden, denn das Etwas ist dabei über sich hinausgegangen. Die darüber hinaus gehende, negierende andere Qualität ist rein logisch bei Hegel eindeutig bestimmt („bestimmte Negation“). Heinz Kimmerle machte darauf aufmerksam, dass es auch im Denken mehr darauf ankäme, das neu Mögliche nicht eindeutig festzulegen – d.h. zu begrenzen – , sondern eher als ein „Umgrenzen, das verschiedene Deutungen zulässt und mehrere Möglichkeiten offenhält“ zu praktizieren (Kimmerle 1983: 138). Noch stärker wäre das Offenhalten der Möglichkeiten für eine Verzeitlichung der logischen Beziehungen aus der Hegelschen Philosophie (etwa beim materialistischen „Umstülpen“) notwendig.

In einer solchen dialektischen Betrachtung gibt es keine Kritik, die von außen käme (ohne dass das Kritisierte und das Kritisierende selbst wieder in einer Einheit zusammen kämen). Stefan und Simon unterscheiden in ihrem Buch „Kapitalismus aufheben“ ein bloß immanentes Modifizieren des Rahmens des Kapitalismus und stellen ihm die commonistische Gesellschaftsform gegenüber (S&M: 174). Die „immanente“ Kritik ist demnach eine, die „im Rahmen der kapitalistischen Kategorien“ verläuft und nur eine „kategoriale“ Kritik kann dann „den Rahmen selbst in die Kritik nehmen“ (ebd.: 103). Mit Kategorien meinen sie nun explizit nicht die, die den Kapitalismus charakterisieren, wie sie Marx im „Kapital“ entwickelt hat, sondern jene, die überhistorisch-allgemeine Charakteristika des Menschen (also „anthropologische“) meint. Gegenüber den gesellschaftstheoretischen Begriffen für jeweils eine konkret-historische Gesellschaftsform sind die Begriffe für die überhistorisch-allgemeinen Charakteristika jedoch abstrakt. (Nur gegenüber ihrem Gegenbegriff dem „Nur-Tierischen“ sind sie haben sie einen konkreten Charakter). Allerdings ist das im Buch „Kapitalismus aufheben“ nicht so gedacht. Unter der Hand ist aus den bloß abstrakt-kategorialen Bestimmungen vom (überhistorisch-allgemeinen) Menschen dann doch ein konkretes Gesellschaftsmodell des „Commonismus“ für die nachkapitalistische Zeit geworden, quasi als Vorschlag für die direkt nach dem Kapitalismus kommende Epoche der Menschheit. Letztlich kann man gegen diese Vorstellung nichts haben, sondern sie sich nur wünschen. Logisch ist dies aber nicht sauber gedacht, denn das eigentlich abstrakt-Anthropologische wird hier unvermittelt konkretisiert. Die zuerst nur „kategoriale“, also abstrakte, Utopie soll nun die nächste Gesellschaftsformation konkret qualitativ bestimmen. Dadurch erklärt sich auch die in 2. zitierte Unsicherheit: „Wie können wir bestimmen, was die veränderbaren Voraussetzungen einer freien Gesellschaft sind? Was braucht sie unbedingt, was ist verzichtbar?“ (S&M: 211) Wenn wir das nicht wissen, hilft uns die ganze Theorie überhaupt nicht, um gezielt zu handeln. Denn Handeln verändert gezielt Bedingungen, und wenn wir nicht wissen, welche Bedingungen wir wie ändern müssen, um zu einem gewünschten Ziel zu kommen, bleibt das Ganze eine liebenswerte Wunschvorstellung, wird aber nicht mehr.

Anders wäre das, wenn die Alternative zur derzeit herrschenden Gesellschaftsform nicht abstrakt-kategorial und konkret unbestimmt wäre, sondern aus den konkreten Widersprüchen an der Grenze des Gegebenen abgeleitet würde. „[d]as Beschränkte kann durch seine eigene Wahrheit die in ihm liegt, angegriffen und mit dieser in Widerspruch gebracht werden…“ (Hegel HW 1,FS: 459).

Letztlich geht es um die Frage, von woher die Kritik sich begründen lässt: Entweder aus dem Abstrakt-Allgemeinen, wie es als Möglichkeit (a) in der folgenden Abbildung (aus Schlemm 2017b) dargestellt ist, oder jeweils aus den Widersprüchen der vorherigen konkreten Gesellschaftsformation (b), die sich aus der Möglichkeit des Anderen, des Neuen ergeben:

Bei Hegel wird auch versucht, aus dem Allgemeinen einen „roten Faden“ für die Weltgeschichte der aufeinanderfolgenden menschlichen Kulturen zu entwickeln (a). Bei ihm ist dieses Allgemeine „die Vernunft“, wobei auch er diese nicht voraussetzungslos unterstellt, sondern es muss sich „erst aus der Betrachtung der Weltgeschichte selbst […] ergeben, daß es vernünftig in ihr zugegangen sei“ (HW 12: 22). Dabei wird aus der „die Vernunft“ auch nicht einfach eine konkrete vollständig „vernünftige Gesellschaft“. In der „Philosophie der Geschichte“ (HW 12) betrachtet er die Weltgeschichte bis hin zu seiner Zeit und findet, „daß es vernünftig in ihr zugegangen“ ist. Über die Zukunft zu spekulieren (z.B. über Amerika als das „Land der Zukunft“ (ebd.: 114)) würde ihm nicht einfallen.

Es gibt nicht nur die Alternative, Kritik entweder „immanent“ zu führen (also innerhalb des Gegebenen-Alten), oder die Kritik aus einem abstrakten Begriff zu führen, sondern eine angemessene Kritik ergibt sich aus der Möglichkeit des Überschreitens der Schranke als Lösung der Widersprüche an der Grenze. An der Grenze widerstreiten letztlich das „nach-Möglichkeit-Sein“ der Wirklichkeit mit dem ihr eigenen „In-Möglichkeit-Sein“. Deshalb hat, nach Marx, die Arbeiterklasse „keine fix und fertigen Utopien durch Volksbeschluß einzuführen. […] Sie hat keine Ideale zu verwirklichen; sie hat nur die Elemente der neuen Gesellschaft in Freiheit zu setzen, die sich bereits im Schoß der zusammenbrechenden Bourgeoisgesellschaft entwickelt haben“ (MEW 17: 343).

Der Vollständigkeit halber sei auch hier noch erwähnt, dass Hegel die Überlegungen zur Grenze/Schranke aus der sog. „Seinslogik“ weiter führt. Zur Stufe der „Wesenslogik“ gelangen wir, wenn wir die aufeinander folgenden qualitativen (konkret-historischen) Formen als Erscheinungsformen eines (überhistorischen) Wesens erfassen. Das Wesen wird dann zum Begriff (III) (siehe dazu 4.3.1), wenn sich diese Erscheinungsformen mit Notwendigkeit und Vollständigkeit aus dem Begriff heraus begründen und ableiten lassen, was m.E. für die Menschheitsentwicklung nicht zutrifft (vgl. Schlemm 2017b).


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