Dieser Text gehört zum Projekt „Über Utopie und Transformation neu nachdenken“. (Version 1.8, seit 25.10.18)


Wie schon oben geschrieben, ergab sich aus den Problemen der Diskussion über Konzepte für eine nachkapitalistische Gesellschaft die Idee, die Diskurse zur angestrebten Gesellschaftsform und des Weges dahin erst einmal zu trennen, also zuerst einen Utopiediskurs zu führen und erst nach Klärung der Ziele den Aufhebungsdiskurs (S&M: 93). Die Behandlung der Transformationsfrage macht demnach erst Sinn, wenn geklärt ist, wohin die Transformation führen soll, was ihr Ziel sein könnte. Wenn die Zielvorstellung einen zu engen Horizont hat, werden auch die Transformationsschritte zu kurz ausfallen. Die Autoren sind der Ansicht, dass eine zu starke Nähe zu den konkreten Bedingungen verhindert oder erschwert, genügend große Veränderungsschritte zu planen.
In der sog. „kategorialen Utopietheorie“ soll im Buch „Kapitalismus aufheben“ das „Menschenmögliche“ bestimmt werden (ebd.: 99). Während andere Utopien demnach bloße Behauptungen darstellen, was sein soll (ebd.), begründen sie nicht, „warum das Andere möglich sein soll“ (ebd.: 100). Solch eine Begründung soll mit der „kategorialen Utopietheorie“ nun vorliegen. Nur der Vollständigkeit halber möchte ich darauf verweisen, dass etwa die Frage: „Wird uns die „Natur“ des Menschen nicht daran hindern, unser Ziel [..] zu erreichen?“ schon lange debattiert wird (hier Bergner 1982: 8, vgl. auch Hahn 1993)).

Die kategoriale Utopietheorie soll als „kategoriale Möglichkeitsutopie“ „auf einer begrifflich-logischen Ebene das Potenzial von uns Menschen“ bestimmen (S&M: 19). Ab S. 104 wird hier die „Frage nach dem allgemein Menschlichen“ gegenüber anderen Konzepten oder Zweifeln rechtfertigt. Nicht klar wird dabei, wieso dieses Allgemeine, also das, was Menschen schon immer gegenüber anderen Tierarten auszeichnet, überhaupt einen utopischen Inhalt haben kann. Die Vorstellungen über dieses Allgemeine, also das, was auch als Gegenstand der Anthropologie gilt, handeln vom dem „was Menschen und Gesellschaften allgemein, also immer sind“ (ebd.). Sie sind deshalb das, „was die Utopie mit der Wirklichkeit verbindet“ (ebd.). Ja, auch die „utopischen“ Menschen werden Menschen sein, wie die Urmenschen, Sklaven, Kaiser und wir, die wir im Kapitalismus leben. Was ist damit gesagt über die Utopie? Wie wir sehen werden, werden zwei Formen des „Begriffs“ nicht unterschieden: einmal jener „Begriff“, bei dem nur das Gemeinsame auf allgemeinster Ebene erfasst wird und einmal jener, aus dem letztlich die „Idee“ wird, d.h. eine konkrete Allgemeinheit, die ihre Besonderungen notwendigerweise aus sich selbst heraus entwickelt und verwirklicht (siehe hierzu auch Abschnitt 4.3.1).

Im Kapitel 6 wird dann die „commonistische Inklusionsgesellschaft“ (ebd.: 12) als die von den Autoren vertretene Utopie geschildert. Hier geht es um die „individuelle Entfaltung“, die „nicht zulasten der individuellen Entfaltung anderer Menschen“ (ebd.: 155) geht. Diese Utopie des „Nicht-auf-Kosten-anderer“ ist sicher wünschenswert. Wie jedoch geht sie aus dem „Begriff vom Menschen“ hervor? Solch ein „Begriff vom Menschen“ soll – im Unterschied zu einem „Menschenbild“, dem bloß Seinseigenschaften zugeschrieben werden – das „Resultat eines ausgewiesenen wissenschaftlichen Prozesses“ (ebd.: 119) sein.

4.1 Anthropologie in der Kritischen Psychologie

Ansätze zu solch einem Begriff werden aus Überlegungen von Klaus Holzkamp in der „Grundlegung der Psychologie“ entnommen. Menschliches Leben ist demnach gekennzeichnet durch eine spezifische Möglichkeitsbeziehung (siehe 3.2.) und damit Freiheit und Bewusstsein (S&M: 125). Diese Potenziale/Fähigkeiten haben Menschen bereits in ihrer gesamten Geschichte. Im weiteren Text wird dann unterstellt, dass Menschen bis zur Verwirklichung der Utopie noch nicht ihre „eigene gesellschaftliche Potenz“ ausschöpfen (ebd.: 126). Was ist diese über das stets Vorhandene – das durch einen allgemeinen, überhistorischen „Begriff vom Menschen“ gedeckt ist – noch hinausgehende „gesellschaftliche Potenz“? Hier argumentieren die Autoren damit, dass die Menschen bisher stets nur unter Zwang letztlich die gesellschaftlichen Notwendigkeiten abdecken. Dem setzen sie die Vorstellung entgegen, dass dies doch auch freiwillig geschehen könnte und dass sich dabei „die menschliche Potenz sozial unbeschränkt entfalten“ (ebd.) könnte. Die Begriffe „Zwang“ und „Freiwilligkeit“ eignen sich meiner Meinung nach zwar als beschreibende Worte, sind aber analytisch nicht brauchbar. Denn gerade die gegenwärtige Gesellschaft ist durch viele „Freiwilligkeiten“ charakterisiert, deren gesellschaftlicher Inhalt damit überhaupt nicht bestimmt ist.

Was ich außerdem vermisse, ist der „ausgewiesene wissenschaftliche Prozess“, der ausgehend vom für mich unstrittigen (auch anderswo als der Kritischen Psychologie bekannten) überhistorischen, von der Gesellschaftsform abstrahierenden (insofern „abstrakten“) „Begriff vom Menschen“ plötzlich zur absoluten Freiwilligkeit führen soll. Das Überhistorisch-Allgemeine besteht darin, „daß die Menschen die Menschen in historischer Größenordnung und vergegenständlichender Tätigkeit ihre Lebensbedingungen selbst schaffen“ (Holzkamp 1984: 390) und „daß sie sich bewußt sowohl zu den äußeren Lebensbedingungen wie auch zu ihrer eigenen Gewordenheit verhalten können“ (Osterkamp 1996: 17). Das „sagt aber noch nichts darüber, wie und unter welchen Umständen, in welchem Verhältnis von Ermöglichung und Behinderung sie dies tun“ (Markard 2009: 107).

Es gibt aber noch einen anderen Ansatzpunkt für den Versuch, eine Utopie daraus zu entwickeln, der meiner Meinung nach im Buch „Kapitalismus aufheben“ nicht deutlich herausgearbeitet ist. Nach Holzkamp hat ein Mensch immer in irgendeiner Weise Handlungsfähigkeit, d.h. „Verfügung […] über seine eigenen Lebensbedingungen in Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess“ (Holzkamp 1983: 241). Das ist eine überhistorische Tatsache und damit auch keine Utopie. Simon und Stefan wollen mit der Utopie auf die „Inklusionsgesellschaft“ hinaus, also eine konkrete Form der Teilhabe, nämlich einer verallgemeinerten. Das unterscheidet sich aber noch mal von dem, was gerade als das Überhistorische erkannt wurde. Das Utopische soll in Möglichkeiten bestehen, die noch nicht verwirklicht wurden, vor allem in der Möglichkeit, eine sog. Inklusionsgesellschaft zu gestalten. Wieso ergibt sich aus der Tatsache, dass Menschen immer in IRGENDEINER Form über die eigenen Lebensbedingungen in Teilhabe an der Verfügung über den gesellschaftlichen Prozess haben, die Utopie, dass dies auch in VERALLGEMEINERTER Form (also so, dass niemand sich auf Kosten anderer entfaltet) möglich ist? Eigentlich nur durch den Gedanken: Die verallgemeinerte Form ist nicht unmöglich. Was hilft uns das weiter? Soweit ich bisher erfolgte Diskussionen mit Stefan verstehe, geht ihm genau nur darum, die grundsätzliche Möglichkeit der kategorialen Utopie aufzuzeigen ohne ein Streben danach zu diskutieren: „Achtung: Kern unseres Arguments ist nicht, dass Menschen danach streben, ihre Handlungsfähigkeit zu verallgemeinern“ (Meretz 2018).

Lassen wir also das „Streben“ weg und folgen der Frage, warum Menschen in der Inklusionsgesellschaft kein Interesse haben, eigene Bedürfnisse auf Kosten anderer zu befriedigen, d.h. warum die Utopie auch in einer Verwirklichung funktionieren könnte. Wenn ich (das gilt auch für jeden anderen Menschen) mich exkludierend verhalte (also meine Bedürfnisse auf Kosten anderer befriedige), stärke ich Strukturen der Exklusionslogik. Diese Strukturen schaden nun aber auch mir selbst wiederum, denn sie schränken meine „produktive Verfügungsbedürfnisse“ ein. Unter gesellschaftlichen Exklusionsverhältnissen liegt es nahe, diese Selbstschädigung zu verdrängen (S&M: 132). In einer Inklusionsgesellschaft jedoch wäre das nicht notwendig, sondern hier ist mir nahegelegt (weil ich mir sonst schade), dass ich von vornherein die Bedürfnisse anderer einbeziehe. Dies setzt voraus, dass ich mich nicht nur mit einem Teil der möglichen Teilhabe zufrieden gebe, sondern die Bedürfnisse der anderen immer in verallgemeinerter Weise mit einbeziehe in alle Überlegungen und Strategien zur Befriedigung meiner eigenen Bedürfnisse. Die „wahre Freiheit des Individuums“ wird dann auch nicht beschränkt durch andere, sondern „die Gemeinschaft der Person mit anderen muß […] als eine Erweiterung derselben angesehen werden“, wie schon Hegel wusste (HW 2, DFS: 82).

Noch leben wir nicht in so einer Inklusionsgesellschaft. Aber die Möglichkeit dazu ist in unserer „Natur“ angelegt. Warum? Im Verlauf der funktional-historischen Methode der Rekonstruktion der Entstehung der menschlichen Psyche wurde schon für hochentwickelte Tiere ein „Kontrollbedarf“ (ebd.: 155) re-konstruiert. Dieser entwickelt sich beim Übergang zum Menschen weiter: „Im Zuge der Herausbildung der ‚gesellschaftlichen Natur‘ des Menschen qualifizierte sich aufgrund der allmählich hervortretenden neuen Lebensgewinnungsform durch gesellschaftliche Arbeit die bloß individuelle Umweltkontrolle zur verallgemeinerten Verfügung über Arbeitsmittel bei der kooperativen Schaffung von Lebensmitteln/-bedingungen. So wurden aus ‚gelernten Orientierungsbedeutungen‘ ‚Mittelbedeutungen‘, und entsprechend spezifizierte sich der ‚Kontrollbedarf‘ in Richtung auf die elementare individuelle Notwendigkeit der Beteiligung an kooperativer Verfügung über allgemeine Lebensbedingungen […]“ (ebd.: 240). Bei Menschen kann also (in jeder Gesellschaftsformation) ein Bedürfnis nach Beteiligung an der Herstellung* der Lebensmittel/-bedingungen vorausgesetzt werden und in diesem Zusammenhang auch danach, an der Verfügung über diese Lebensbedingungen „teilzuhaben“. Stefan und Simon nennen das „Teilhabebedürfnis“ (S&M: 128).

Dieses Bedürfnis kann dann die Erwartung stützen, dass Menschen die Teilhabe immer mehr erweitern können, bis eine maximale Vollständigkeit der Teilhabe, bzw. ihre Verallgemeinerung, erreicht ist. Dies wäre dann die Utopie, die sich aus dieser allgemeinen Verfasstheit des Menschlichen ableiten ließe. Holzkamp beschreibt das – allerdings bloß für die Erweiterung – eindrücklich: „Die in der gesellschaftlichen Natur des Menschen liegenden Bedürfnisse realisieren sich also hier in der Erweiterung der Handlungsfähigkeit, d.h. sie treten in Erscheinung als subjektive Erfahrung der Einschränkung der Handlungsfähigkeit, was gleichbedeutend ist mit der subjektiven Notwendigkeit der Überwindung dieser Einschränkung.“ (ebd.: 241).

Methodisch ist die Behauptung, damit sei die Utopie kategorial wissenschaftlich begründet, immer noch nicht ganz sauber, denn:

  1. setzt die funktional-historische Methode das, woraufhin sich die Psycho in der Phylogenese entwickelt, als das „jeweils Gegenwärtige“ (Holzkamp 1983: 49) schon voraus. Es wird genau der Entwicklungsweg verfolgt, der zu dem führt, was man als erreichten Endzustand bestimmt hat. Dies ist in Hegels Philosophie der Weltgeschichte der Standpunkt der „Eule der Minerva“, die „erst mit der einbrechenden Dämmerung ihren Flug“ beginnt, also nach Vollendung des Entwicklungswegs (vgl. Hegel HW 7: 28). DASS die Entwicklung der menschlichen Psyche bis hin zu solchen Bedürfnissen nach erweiterter oder gar verallgemeinerter Teilhabe führt, ist nicht durch die funktional-historische Methode „bewiesen“, sondern vorausgesetzt und stückweise insoweit plausibilisiert worden, als dass man dieses Streben bei Menschen unabhängig von dieser Methode kennt und dass für die Vorformen dieser Bedürfnisse evolutionsbiologisch-/psychologischer Einzelbelege in die funktional-historische Methode eingehen.
  2. Sogar aus einer ständigen Erweiterung der Verfügung ergibt sich logisch nicht, dass diese einst vollständig erreicht, d.h. verallgemeinert, sein könnte. Warum immer mildere Formen des „Einsehens der Notwendigkeit“ in absolute Freiwilligkeit umschlagen sollten, ist nicht begründet. Warum eine Entwicklungslogik, bei der sich etwas „auf Kosten“ von etwas anderem entwickelt plötzlich umschlagen sollte in eine Logik, bei der die Entwicklung nicht mehr „auf Kosten“ von etwas anderem erfolgt, ist zumindest im Buch ebenfalls nicht gedeckt durch eine wissenschaftliche Begründung.
  3. Um das Teilhabebedürfnis als Begründung für die Hoffnung auf eine derart utopische Hoffnung verwenden zu können, muss noch geprüft werden, ob, in welcher Art und über welche Vermittlungen subjektive Bedürfnisse überhaupt zu objektiven geschichtlichen Wirkfaktoren werden (um einen unvermittelt-kurzschlüssigen „Objektwechsel“ bzw. „Ebenenwechsel“ zu vermeiden). Hans Heinz Holz gibt an einer ähnlichen Stelle gegenüber Helmuth Plessner zu bedenken: „Wohl ist das reflexive Selbstverhältnis des Menschen konstitutiv für sein Menschsein, nicht aber kausal für die Ereignisse, die insgesamt seine faktische Lage in der Welt ausmachen.“ (Holz 2003: 138). Dazu wäre eine Analyse der „geschichtlichen Bedingungsstruktur“ (ebd.) vonnöten.

Auch in der Kritischen Psychologie wird mit den Begriffen „menschliche Natur“ und „menschliches Wesen“ gearbeitet, aber nicht mit einem „Begriff vom Menschen“. Die Ausführungen von Ute Holzkamp-Osterkamp dazu finde ich sehr interessant. Demnach, und das gehört wohl zum „ausgewiesene[n] wissenschaftlichen Prozess“ (S&M: 119) der Erarbeitung eines Begriffs vom Menschen, gibt es „biologische Voraussetzungen der menschlichen Gesellschaftlichkeit“ (Holzkamp-Osterkamp 1977: 329).
Eine solche Bestimmung der „menschlichen Natur“ widerstrebt auch einer berechtigten Ablehnung gegen jede Vorgegebenheit und auch einer Einebnung der Unterschiede zwischen Menschen, sondern bezeichnet ein Potential, „ das offen ist für Vielfalt, Perspektiven, Differenz, Distanz“ (Tschurenev 2013: 167).

Die phylogenetisch und im Tier-Mensch-Übergangsfeld entwickelte „menschliche Natur“ (vgl. Holzkamp 1983: 180) jedenfalls wird bei Holzkamp-Osterkamp weiter bestimmt als „eine für Menschen spezifische individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit“ (Holzkamp-Osterkamp 1977: 330). Diese ist erst einmal nur die in aller Menschengeschichte stets schon vorhandene „individuelle Lern- und Entwicklungsfähigkeit“, noch nichts Utopisches. Dass und ob diese Lern- und Entwicklungsfähigkeit jemals eine vollständige inklusionslogische gesellschaftliche Struktur ermöglicht, ist damit nicht gesagt. Über die individuelle Entwicklungsfähigkeit hinaus ist den Menschen eigen, dass sich auch ihre Gesellschaftsformen entwickeln (ebd.: 331). Wenn man nun die Bestimmung aus der 6. Feuerbachthese (MEW 3, TF: 6) hinzunimmt, dass das „menschliche Wesen […] in seiner Wirklichkeit […] das ensemble der gesellschaftlichen Verhältnisse“ ist, so kann man das mit Holzkamp-Osterkamp zusammendenken: „Dies bedeutet, daß die „menschliche Natur“ als Entwicklungspotenz zur individuellen Vergesellschaftung eine empirische Eigenart der artspezifischen biologischen Ausstattung darstellt, deren Realisierung aber stets im Hinblick auf historisch bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse erfolgt, so daß sie individualgeschichtlich niemals als „allgemeine“, „abstrakte“ im Individuum hockende Essenz erscheint, sondern immer und notwendig als Realisierungsweise des menschlichen Wesens in konkret-historischer Form.“ (Holzkamp-Osterkamp 1977: 332) Damit ist die Vorstellung vom abstrakten Wesen und seiner entfremdeten Verwirklichung tatsächlich überwunden.


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