Es liegt nahe, die erste Forderung der Bewegung „Extinction Rebellion“ (XR) auch auf sie selbst anzuwenden. Sie lautet: „Sag die Wahrheit“ (vgl. Read 2019). Es wird, wie ich schon einmal berichtete, geredet über XR, spätestens seit den Oktobertagen. XR selbst wird einerseits nachgesagt, in ihr würde alles „zentral vorgegeben“ (Ditfurth 2019); andererseits erlebe ich aus der Innenansicht ein ziemliches Durcheinander an Debatten und Diskussionen. In einer noch recht neuen Bewegung sollte es normal sein, dass vieles noch nicht festgelegt ist und dass viele mitreden. So ist es derzeit auch. Kritik kommt dabei nicht nur von außen, sondern letztlich viel sachgerechter auch von innen. Einiges davon habe ich in den letzten Tagen gelesen und davon möchte ich – recht verkürzt natürlich – berichten.

Seit ich diesen Text begonnen habe, ist viel passiert. Leider treten schon viele aus, anderswo wie in Jena, wurden Diskussionen angestoßen, deren Ergebnis noch offen ist. Mein Beitrag soll dazu führen, die Bewegung stärker und erfolgreicher zu machen, nicht die Herausforderungen, die mit ihrer Entwicklung verbunden sind, abzuwehren. Allerdings wird die Bewegung nur dann stärker und erfolgreicher, wenn sie sich entsprechend den Bedingungen und Erfahrungen auch entlang von externen und internen Kritiken als ausreichend wandlungsfähig erweist.

Stand der Dinge

In der zweiten Hälfte des Jahres 2018 begannen viele Menschen aufzustehen gegen die weitere Aufheizung der Atmosphäre im sog. Klimawandel. SchülerInnen streiken und demonstrieren seitdem weltweit. Und neben radikalen Bewegungen wie „Ende Gelände“ und andere, die sich meist direkt gegen den weiteren Kohleabbau stemmen, entstand die Bewegung „Extinction Rebellion“ (XR), die aufgrund der Unwirksamkeit reformerischer Umwelt- und Klimaschutzmethoden nun radikaler wird: Es wird übergegangen zum Gewaltfreien Widerstand und hierbei von früheren solchen Praktiken gelernt.

Das Jahr 2019 nun „hat alles verändert“, so Sam Knights (2019), einer der Organisatoren von XR. Es geht nicht mehr nur um Appelle an die Politik, sondern: Wenn Politiker der Klimakrise nicht angemessen begegnen, dann werden wir selbst etwas tun, wir, d.h. die „gewöhnlichen Leute“ (ebd.). Das Jahr sah eine Frühjahr- und eine Herbst-Rebellion, vor allem in Großbritannien, wo die Bewegung entstand. Die Aktionstage öffneten einen Raum für Debatten und brachten das Klimathema in den Mainstream (Ahmed 2019). Es wurden in vielen Orten Klimanotstände ausgerufen und in UK erarbeitete die Labour Party einen „Green New Deal“, der nicht nur Umweltthemen beinhaltet, sondern auch die Forderung nach öffentlichem Eigentum an den wichtigsten Industrien, und eine radikale Umverteilung des Reichtums und die Zurücknahme der Gesetze gegen Gewerkschaften vorsieht. „Sozialismus oder Barbarei“ ist ihr Motto dabei. In UK wird es auch BürgerInnenversammlungen geben, wie die Bewegung XR fordert, wenn auch nicht noch optimal in deren Sinne angelegt. Aber es geht vorwärts.

Soweit so gut. Nun wird es aber auch Zeit für ehrliche Bilanzen. Und Zeit für Antworten an Kritisierende. Wie ist denn die Lage? Die der Umwelt bzw. der Atmosphäre wird immer schlimmer.

Nicht jede/r, die bzw. der diese Wahrheit ausspricht, gehört zu einer „Endzeitsekte“, wie es Jutta Ditfurth (2019) XR vorwirft. Und was wir dagegen tun, reicht längst noch nicht aus. Schlimmes kann höchstwahrscheinlich nicht mehr verhindert werden und „Diese Zivilisation ist am Ende“ (Read 2018). Entweder sie transformiert sich oder sie verschwindet. Eine Transformation erfordert ein Vorgehen auf vielen Ebenen: zuerst ein Herunterdrehen der Treibhausgasemissionen, dies am besten auf Grundlage einer radikale Umgestaltung von Wirtschaft und Gesellschaft und zusätzlich eine Anpassung an die schon nicht mehr zu verhindernden Folgen des Klima-Umbruchs.

Die Frühjahrs-Rebellion brachte das Thema in die öffentliche Aufmerksamkeit. Rupert Read schlug im Juli 2019 vor, bei der Herbst-Rebellion stärker die Reichen und politischen Eliten ins Zentrum der Störungen zu rücken, damit deutlich wird, dass diese sich stärker verändern müssen als die anderen Menschen. Das kam in den Planungen der Aktionen zumindest in Deutschland nicht so richtig an – hier wurde meiner Ansicht nach überhaupt erstmal geprobt, wie mehrere Tausend einigermaßen unerfahrene AktivistInnen sich organisieren und Aktionen planen und durchführen können. Inzwischen wird dazu aufgerufen, die nächste Rebellion-Welle mit eigenen Vorschlägen mit vorzubereiten.

Überhaupt ist meiner Erfahrung nach diese Bewegung gekennzeichnet durch die Unerfahrenheit ihrer Akteure. In anderen politischen Bewegungen gibt es mindestens jahrzehntelange Erfahrungen und damit auch Erfahrungsträger sowie Organisationsstrukturen, in die die „Neuen“ hineinwachsen können. Bei XR muss alles und auf einmal neu auf die Beine gestellt werden. Und das Wenige, was an Erfahrung eingebracht wird, ist dann beim ersten Versuch auch einigermaßen lückenhaft und z.T. einseitig, wie wir im Folgenden sehen werden. Das ist nichts Schlimmes – verhängnisvoll wäre es nur, wenn nicht jetzt schnell gelernt würde.

Wie sich zeigt, sind auch viele weltanschauliche und politische Orientierungen von Menschen, die sich beteiligen, höchst unterschiedlich. Die politische Bildung ist oft mangelhaft und bisher gab es kaum inhaltliche Debatten. Vielleicht gibt es die jetzt, vielleicht fällt auch einfach alles entlang der inhaltlichen Bruchlinien auseinander.

Was tun? Strategieentwicklung

Im Folgenden referiere ich einige Diskussionen zur Strategieentwicklung und zur Planung von Aktionen:

Das Ziel

Erreicht werden soll eine Veränderung im politischen und wirtschaftlichen Handeln, das die Gefahr der Klimakatastrophe im letzten Moment abwendet. Was genau geschehen soll, will die Bewegung nicht vorab festlegen, sondern das soll in den BürgerInnenversammlungen diskutiert und beschlossen werden.

Um dies zu ermöglichen, muss mit den bisherigen Politikformen gebrochen werden. Hallam schreibt in einem Text, dass es notwendig ist, „to remove the politcal class“ (Hallam 2019: 10). Die Rebellion richtet sich demnach zuerst gegen die Regierung (ebd.) und hat zum Ziel, die „Regierung zu stürzen“ (ebd.: 23). Die BürgerInnenversammlunmgen haben dann die  Mölgichkeit, “to take over the sovereign role from a corrupted parliamentary system” (ebd.: 9) und “will become the new governing body”.

An anderer Stelle wird nur davon gesprochen, die “Regierung an den Verhandlungstisch zu zwingen” (ebd.: 43). Dass die Regierung und auch das Parlament ihre Funktion behalten, jedoch die Ergebnisse der BürgerInnenversammlung aufnehmen soll, wird auch anderswo gefordert: „The government must create and be led by the decisions of a Citizens‘ Assembly on climate and ecological justice.“ (Knight 2019: 11)

Der Politik wird dann wohl auch die Aufgabe zugesprochen, die notwendige “major transition of the economy” (Hallam 2019: 67) zu erzwingen.

Die demokratischen Institutionen sollen also nicht mehr den Vorgaben der Wirtschaft folgen, sondern denen der BürgerInnenversammlung.

Damit wird der Politik tatsächlich eine steuernde Rolle zugeschrieben, die sie im Kapitalismus auf die vorgestellte Weise gar nicht hat. Der Zugriff auf die Wirtschaft bleibt weiterhin den KapitalistInnen vorbehalten.

AdressatInnen der Stör-Aktionen

Manchmal ist es nicht ganz klar, gegen wen sich welche Strategien richten. Einerseits soll die gesamte Bevölkerung aufmerksam gemacht werden auf die kommenden maßgeblichen „Störungen“ der bisherigen Lebensweise durch die Folgen des Klima-Umbruchs.

Andererseits setzt Hallam auf eine scheinbar schon vorhandene Interessensspaltung zwischen den Eliten und der Mehrheit der Menschen: „Everyone knows the situation is fucked – everyone except the political class and elites” (Hallam 2019: 47), was die Interessenübereinstimmung von vielen Menschen innerhalb der kapitalistisch-imperialen Hauptstaaten übersieht. Es werden auch oft nur die Superreichen als  Gegner gesehen (vgl. Rushkoff 2019).

Diese globalen oder nationalen Eliten, die am stärksten vom Ressourcenverbrauch und den Treibhausgasemissionen profitieren, werden sich am meisten ändern müssen und dies soll auch in den Aktionen sichtbar werden. Es ist ein Unterschied, ob Heathrow blockiert wird oder der London City Airport, der von Superreichen und Geschäftsleuten benutzt wird (Read 2019: 14). Und ob normale Leute auf ihrem Arbeitsweg blockiert werden (die U-Bahn-Störungen werden in allen Texten stark kritisiert), oder eben Parlament bzw. Regierung sowie Börse und Banken in ihrem „Normalbetrieb“ gestört werden sollen (ebd.: 16). Übrigens: In Deutschland gehört der Energiekonzern RWE als 41. zu den 100 Konzernen, die 71 % der weltweiten industriellen Treibhausgase verantworten. Ansonsten sind es z.B. ExxonMobil,  Shell, BP, Total u.a.. Rupert Read hatte den Vorschlag gemacht, sich in der Herbst-Rebellion auf die Eliten zu konzentrieren, auch um den anderen Menschen zu verdeutlichen, dass nicht sie zuerst zahlen müssen für vor allem deren Verschwendung. Nur dann wird die Mehrheit der Menschen auch bereit sein, in den BürgerInnenversammlungen dafür einzutreten, sich für Pläne des Klimaschutzes einzusetzen, die nicht mehr „kostenfrei“ zu haben sein werden (Read 2019: 6).

Damit sie dies freiwillig tun, ist Gerechtigkeit unabdingbar. Auf diese Weise sind Fragen von Umwelt- und Klimaschutz direkt mit sozialer Gerechtigkeit verbunden.

Aber auch, wenn wir zwischen den Personen unterscheiden (normale Leute und Elite), bleibt noch die systemische Komponente, die zu wenig beachtet wird, weil keine klare Gesellschaftstheorie vorhanden ist. Eine bloße Personalisierung (Elite – Mehrheit) führt strukturell doch zu personalisierenden Angriffen, die eigentlich ausgeschlossen werden sollen.

Außerdem ist damit tendenziell unsichtbar gemacht worden, dass auch unter den Nicht-Elite-Menschen zahllose Strukturen und Prozesse von Ausgrenzung und Unterdrückung gegenüber Frauen, Peoples of Color und entlang anderer Differenzlinien praktiziert werden.

Dies wird besonders deutlich bei der strategischen Orientierung auf ein mögliches Überlaufen der  Repressionsorgane, die deren Praxis der Verfolgung dieser Menschen verleugnet und bei den Aufforderungen, sich verhaften zu lassen, auch deren Lebenswirklichkeit und Erfahrung verleugnet.

Bündnisse?

Zur Frage der Bündnisse mit anderen Bewegungen gibt es widersprüchliche Aussagen. Roger Hallam scheint dazu zu neigen, dass alle anderen sich der XR-Rebellion anschließen sollen: “The time for joint meetings and joint statements is over. We need concrete commitments to support a rebellion” (Hallam 2019: 50). Sam Knights dagegen sieht uns “as one brunch of a much wider, stronger, wiser movement” (Knight 2019: 12).

3,5%-Regel

Eine recht große Bedeutung erhielt in der Bewegung XR die Aussage, wenigstens oder lediglich 3,5% der Bevölkerung müssten durch die Proteste erreicht und für eine Beteiligung motiviert werden, um erfolgreich zu sein. Allerdings ist die Grundlage für diese Aussage fragwürdig.

Die Hoffnung, dass es ausreicht, 3,5% der Bevölkerung zu mobilisieren um wesentliche Veränderungen in der Gesellschaft durchzusetzen, basiert auf Untersuchungen von Erica Chenoweth und Maria Stephan (2011). Demnach haben nicht-gewaltvolle Proteste mehr TeilnehmerInnen und auch eine höhere Chance, dass der Sicherheitsapparat überläuft und damit insgesamt eine höhere Chance, dass der Protest gelingt:

„In fact, no campaigns failed once they’d achieved the active and sustained participation of just 3.5% of the population –and lots of them succeeded with far less than that.“ (ebd.: 110, vgl. Chenoweth 2013)

Diese 3,5%-Regel ist – zumindest für unser Ziel – wenig zuverlässig, wie öfter festgestellt wird. Sie gilt für repressive Regime und Diktaturen und es wäre töricht, die einfach auf andere politische Kontexte zu übertragen. (Knights 2019, Ahmed 2019)

Was war so spezifisch an den für die 3,5%-Regel untersuchten Bewegungen, die in XR nicht gegeben sind?

  1. Sie galt nicht in bürgerlichen Demokratien, sondern gegenüber Diktaturen, die ihre Legitimität bei der Bevölkerung schon eingebüßt hatten (Read 2019). Außerdem waren die Menschen selbst ständig Opfer der Gewalt durch die Institutionen – “they involved resistance to regimes that actively invoked domestic violence against opposition forces, which therefore drew on an already existing groundswell of discontent. Not only did very few of these cases involve overthrow of a democracy, none of them involved successful nonviolent efforts to overthrow or change a Western liberal democracy.” (Ahmed 2019, vgl. Carlyle 2019)

“…the ‘3.5 percent rule’ is only meaningful in application to forms of political resistance against regimes involved in considerable, highly visible, domestic repression, by mobilising communities directly affected by that repression.” (ebd.)

  1. Es galt, bisher ausgeschlossene Gruppen in ein vorhandenes System zu integrieren. Jetzt dagegen geht es darum, ein neues System zu entwickeln und das alte abzuwickeln. (vgl. Read 2019: 9).
    Um diese Transformation zu erreichen, brauchen wir aber alle Menschen (mindestens die 99% (?), die nicht zu den herrschenden 1% (?)gehören), nicht nur 3,5%.
  1. Die erfolgreichen gewaltfreien Bewegungen waren eingebettet in starke, direkt betroffene Communities. (vgl. Lead 2019: 19)
  1. Die gestörten Institutionen waren die Institutionen der Gewalt. Wenn hier deren Kostenaufwand durch die Aktionen erhöht wird, schwächt das unmittelbar deren Gewaltpotential. Bei XR dagegen juckt das Steigen der Kosten für den Polizeiapparat die fossilen Industrien überhaupt nicht.
  1. In allen untersuchten Fällen gab es viel mehr Strategien als die von Roger Hallam favorisierte. Vorausgehende gewalttätige Auseinandersetzungen werden, wie andere Voraussetzungen (z.B. die Communities) verschwiegen.

Kritisiert wird nicht nur die selektive Lesart der zugrunde liegenden sozialwissenschaftlichen Arbeit durch vor allem Roger Hallam (der sich – nach Ahmed 2019 – nur „die Rosinen rauspickt“), sondern auch Chenoweth und Stephan selbst werden kritisiert (ich habe das Buch selbst nicht gelesen, referiere hier nur die Kritiken anderer). So schreiben sie z.B. von friedlichen Verhandlungen in Ghana von 1951-1957, verschweigen aber vorherige gewaltsame Auseinandersetzungen 1948 in Accra. Auch für Südafrika unterschlagen sie den zwei Jahrzehnte dauernden bewaffneten Widerstand, der erst zur Bereitschaft des Apartheid-Regimes zu Verhandlungen führte. (Ahmed 2019) Außerdem gab es in allen Fällen eine Fülle von Strategien, nicht nur die von Hallam herausgenommene Strategie der Masseninhaftierungen (ebd.). Schon bei Chenoweth und Stephan wird nur Widerstand betrachtet, der das System in Richtung westlich vorgegebener Muster veränderte, während andere Kämpfe um Würde, Selbstversorgung und lokale Autonomie ignoriert wurden (ebd.). Das ist kein Zufall, denn gewaltfreier Widerstand ist nicht per se „gut“, sondern Chenoweth und Stephan unterstützen nicht zufällig die Strategie der US-Regierung, ausgerechnet missliebige Staaten mit gewaltfreiem Widerstand im Innern zu Fall zu bringen.

Methoden

Die Strategie, wie sie vor allem von Roger Hallam in seinem Text Common Sense For The 21st Century (Hallam 2019) entwickelt wird, wird häufig kritisiert. So hat zwar die Strategie des Massenarrests bei Martin Luther King funktioniert, dies ist aber nicht einfach übertragbar (Knights 2019).

Was die von Hallam als Vorläuferbewegungen genannten Bewegungen von XR maßgeblich unterscheidet, ist, dass diese erstens ihre gewaltfreie Phase erst nach vorherigen durchaus gewaltsamen Widerständen hatten und zweitens eingebettet war in lange vorher in Graswurzelarbeit entwickelte starke Communities. Dabei richtete sich der Kampf gegen Gegner, unter denen z.B. die Schwarzen unmittelbar zu leiden hatten und die dann untereinander eine starke Solidarität aufgebaut hatten (vgl. Ahmed 2019).

 

Dezentralität

Aufgrund der Dezentralität (ganz entgegen den Behauptungen der zentralen Vorgaben) wird es nicht zu verhindern sein, dass einzelne Gruppen ungünstige oder dumme Entscheidungen für Aktionen treffen. Weil im April die Bewegung noch so übersichtlich war, und die Menschen aus der Gründungsphase tatsächlich mehr Einfluss hatten, wurde damals eine fragwürdige Aktion durchaus stärker thematisiert und letztlich nicht durchgeführt. Jetzt wird gerade darum gerungen, wie damit umgegangen wird, dass Aktionen mindestens den 10 Prinzipien entsprechen müssen und wie auch deren Interpretation jeweils diskutiert wird.

Neue Orientierungen

Es ist nun auch die Zeit gekommen, die gesteigerte Aufmerksamkeit für das Thema und das Ausrufen des Klimanotstandes umzusetzen in echte wirksame Taten: z.B.: Kohlebergbau und Fracking verbieten, importierten Kohlenstoff belasten, Flughafenerweiterungen stoppen etc. (Read 2019: 8).

Real existierende Mankos der Bewegung

Fehlende Verantwortlichkeit

Sam Knight kritisiert, dass es derzeit keine Verfahren bzw. Mechanismen dafür gibt, Verantwortlichkeiten für die Wirkung bzw. die Folge von bestimmten Aktionen und Aussagen zu diskutieren. Die Dezentralität führt auch dazu, dass keine formalen Strukturen vorhanden sind, die eine Bewertung der Bedeutung von Aussagen möglich machen – letztlich werden diejenigen, die sich am lautesten kund tun, auch am meisten gehört.

Rassismus?

In vielen Texten wird selbstkritisch angemerkt, dass es bei XR auch rassistische Probleme gibt. Roger Hallam etwa schrieb in einem Text, dass z.B. schwarze Menschen gerne eigene Gruppen aufmachen könnten (Hallam 2019: 58, Kritik daran siehe Ahmed 2019). Hallam nimmt hier unreflektiert eine gönnerische, noch dazu nicht integrativ-inkludierende privilegierte Haltung ein.

Nafeez Ahmed macht auch darauf aufmerksam, dass ökonomische Störungen des Normal-Betriebs (z.B. der U-Bahn) nicht zufällig farbige Menschen, Menschen aus anderen Ethnien und arbeitende Menschen viel stärker treffen als die Eliten.

Auch die übliche Orientierung auf Freundlichkeit gegenüber der Polizei, um sie ev. zum Überlaufen zu bewegen (was in den sozialwissenschaftlichen Studien als häufiger Erfolgsfaktor in Rebellionen ausgemacht worden war), missachtet die Erfahrungen jener Menschen, die ständig durch die Polizei diskriminierend angegriffen werden (Ahmed 2019).

Offen nach rechts?

Im extinction rebellion Handbuch schreibt Farhana Yamin, dass wir uns alle zusammenschließen müssen, „Linke, rechte und jede politische Coleur dazwischen“ (2019: 35). Auch sonst zeigt sich Extinction Rebellion eher besorgt um eine Anschlussfähigkeit in alle Richtungen als um ein klares Profil. So ist es kein Zufall, dass R. Harrington (für XR) vorschlägt, von Nigel Farage, einem britischen Rechtspopulisten (1,2,3,4) zu lernen. (mehr dazu in Ahmed 2019). Und wenn Roger Hallam meint, der Holocaust sei „just another fuckery in human history“, dann ist eine Rote Linie überschritten, die die Bewegung jetzt gerade zum Zerreißen bringen kann.

Aufgrund des jahrzehntelangen weitgehenden Ausfalls von politischer Bildung, postmoderner Beliebigkeit und gegenseitiger Abschottung der Szenen kommen jetzt Positionen ungeklärt hoch, die bei dem Menschen seit langem vorhanden sind, aber jetzt – ausgesprochen – endlich thematisiert werden könn(t)en. Hoffentlich leiten die jetzt hochkochenden Debatten nicht nur noch mehr unfruchtbare Emotionen hoch, sondern leiten Lernprozesse ein. Für die ständig lauernde Gefahr der Braunfärbung des Grünen habe ich eine Zusammenfassung geschrieben.

Veränderungsbedarf

Nach den ersten Bilanzen stehen Veränderungen an. Die Bewegung muss sich ändern, so  meinen es auch die internen Kritiken (z.B. Knights 2019). In den von mir untersuchten Texten bezieht sich dies vor allem auf drei Schwerpunkte:

  1. Es muss eine gründlichere Analyse von Kapital und Herrschaft vorgenommen werden (Knights 2019). Dabei zeigt sich, dass dasselbe System, das für die Zerstörung der ökologischen und atmosphärischen Lebensgrundlagen verantwortlich ist, auch verantwortlich ist für Armut, Ungleichheit und strukturellen Rassismus (Ahmed 2019).
  2. Die Frage der Gerechtigkeit muss in den Mittelpunkt rücken (Knights 2019).
  3. Die Bewegung muss sich proaktiv als antirassistisch positionieren. (ebd.)
    „People of colour and working people need to be integrated directly into XR strategy and decision-making processes, not just permitted to get involved in a tokenistic fashion incapable of acting ‘upwards’ on how XR as a whole defines itself, understands the crisis, and formulates change actions.” (Ahmed 2019)
    „It needs to proactively defend migrant rights and to stand in solidarity with those on the frontlines of this crisis. It needs to call for reparations and for further conversations around climate debt, land rights, and ecocide. It needs to better articulate how we extend and reform our broken democracy. It needs to reimagine our global finance system and, in doing so, provide a nuanced critique of our current economic system. It needs to understand how the climate crisis intersects with issues of race, class, gender, and sexuality.” (Knights 2019)

Strategisch geht es vor allem darum, nicht nur durch einmalige Aktionen aufzufallen, sondern Communities aufzubauen, zu vernetzen und vorhandene Communities zu stärken.

“In this way, communities across society will be empowered to envisage how the great societal and civilisational transition necessary to avoid extinction is also the only crash programme that will stave off catastrophe in the future, as well as here and now transform their lives for the better, put food on the table, allow them to enjoy healthy working lives, free them from fear of draconian policing, give all people equal opportunities no matter their background, ethnicity, faith, gender, disability or whatever, and allow them to provide the best for their families.” (Ahmed 2019)

Es wird nicht mehr gut, sondern es kann sogar besser werden…

Nein, so richtig „gut“ wird es nicht mehr. Kleine kosmetische Änderungen, die wir in unserem Leben kaum merken, werden nicht ausreichen. Es reicht nicht aus, die individuelle Mobilität auf Elektro umzustellen und ansonsten so weiter zu machen wie bisher. Es reicht nicht aus, die Stromversorgung so weit wie möglich auf erneuerbare Energien umzustellen und ansonsten so weiter zu machen wie bisher. Und da wir sogar damit zu lange gewartet haben, sind größere Verwerfungen wohl schon nicht mehr zu verhindern.

“…there is simply no way that we can honestly reassure ourselves that we are going to come through this crisis without our ecology/society collapsing” (Read 2019: 25)

Dass ich endlich nicht mehr alleine bin mit meinen Ängsten um die Zukunft der menschlichen Zivilisation, dass hier endlich ausgesprochen werden kann, was sonst Tabu ist, ermöglicht es erst, gemeinsam darüber nachzudenken, wie wir damit umgehen können, mit dem wirklich möglichen und sogar wahrscheinlichen Ende dieser menschlichen Zivilisation.

Auch wenn viele Folgen des Klima-Umbruchs nicht mehr aufzuhalten sein werden, ist bis zum Ende der menschlichen Zivilisation nicht alles verloren. Manchmal wird gesagt, dass man Leute mit den ernsten Prognosen nicht entmutigen soll. Aber solange es menschliches Leben gibt, d.h. so unterhalb einer global-durchschnittlichen Temperaturerhöhung um über 5 oder 8 Grad, wird es um jedes Zehntel Grad gehen, das verhindert werden kann und um jede Anpassungsmaßnahme, die dann jeweils noch möglich ist. Und wenn es „nur“ darum geht, ob unsere Enkel in einer um 3 Grad oder einer um 4 Grad erwärmten Welt leben, so kann das angesichts der Kipp-Punkte im Klimasystem ein Unterschied ums Ganze sein, um den es sich immer noch zu kämpfen lohnt, auch wenn es schon schlimm genug aussieht.

Zu den Anpassungsmaßnahmen sollte es durchaus gehören, sich für Katastrophen so weit wie möglich zu wappnen. Der Aufbau einer gesunden und naturverträglichen regionalen Nahrungsmitteproduktion ist dabei wichtiger als jedes Haus mit einem Keller voller Konserven (vgl. Read 2018). Diese Art der Anpassung an den  Klimawandel wird auch „transformative Anpassung“ genannt (Read 2019: 24).

Letztlich verlieren auch bei einer progressiven Transformation von Wirtschafts- und Lebensweise nur jene etwas, die mindestens global gesehen bisher auf Kosten anderer und der Natur gelebt haben. Aber auch sie gewinnen mehr Sicherheit durch mehr Kooperation, mehr Gemeinschaftlichkeit, mehr Gesundheitsorientierung und weniger Verschmutzung (vgl. Read 2019: 11) und verlieren Beschleunigungsstress und Konkurrenzdruck.

“But our rebellion must be as much about trying to create the seeds for something better to come out of the likely wreckage of this civilisation as it must be about one last desperate push to change this civilisation into something ecologically-viable without suffering catastrophic collapse first.” (Read 2019: 4)

Literatur

Ahmed, Nafeez (2019): The flawed social science behind Extinction Rebellion’s change strategy. 

Carlyle, Gabriel (2019): XR: The 3.5 percent rule.

Chenoweth, Erica (2013): Civil Resistance and the “3.5%-Rule”. Talk at TEDxBoulder.

Chenoweth, Erica; Stephan; Maria (2011): Why Civil Resistance Works – The Strategic Logic of Nonviolent Conflict. New York: Columbia Univers. Press.

Ditfurth, Jutta (2019a) : Extinction Rebellion: “Irrationalismus einer Endzeitsekte”. Interview mit Jutta Ditfurth von Jannik Waidner. In: FAZ, 11.10.2019.

Hallam, Roger (2019): Common Sense For The 21st Century. (vs. 0.3)

Knights, Sam J. (2019): Extinction Rebellion: We Need To Talk About The Future.

Read, Rupert (2018): This civilization is finished: So what is to be done?

Read, Rupert (2019): Truth and consequences: a memo to fellow rebels on smart strategy, and on soul.   (siehe auch Video)

Rushkoff, Douglas (2019): Survival of the Richest. This is not a drill. An Extinction Rebellion Handbook. Penguin. S. 58-64.

Yamin, Farhana (2019): Sterben, Überleben oder Aufblühen? In: Wann wenn nicht wir*. Ein extinction rebellion Handbuch. Frankfurt am Main: Fischer. S. 33-40.