Ab morgen (heute) finden in Frankfurt die „Blockupy Frankfurt“-Aktionstage „gegen das Krisendiktat der Troika von EZB, IWF und EU-Kommission“ statt. Philosophie war selten aktueller als beim heutigen (gestrigen) Vortrag innerhalb der Vortragsreihe „Hegel in Transformation“. Seinen Vortrag betitelte Frank Ruda „Recht ohne Recht. Hegel als Theoretiker universaler Empörung“.

Gibt es tatsächlich eine produktive Verbindung des angeblichen „Preußischen Staatsphilosophen“ zu den derzeitigen Ereignissen und zur aktuellen Schrift „Empört Euch!“ von Stéphane Hesselt?

Frank Ruda verwies zu Beginn darauf, dass die Philosophie des Rechts von Hegel selbst viel Empörung hervorrief. (Die „Philosophie des Rechts“ (HW 7) enthält ebenso wie die „Philosophie des objektiven Geistes“ in der Enzyklopädie (HW 10) von Hegel dessen Gesellschaftstheorie). Zwar wird genau dieses Werk von vielen, sogar von Adorno, als konservatives oder gar reaktionäres Werk dargestellt – aber es enthält durchaus das Potential, eine „metaphysische Bombe“ in jener Bedeutung zu sein, wie es der junge Hegel für manche Schriften beschrieb:

„Originelle ganz wunderbare Werke in der Bildung gleichen einer Bombe, die in eine faule Stadt fällt, worin alles beim Bierkrug sitzt und höchst weise ist und nicht fühlt, daß ihr plattes Wohlsein eben das Krachen des Donners herbeigeführt.“ (HW 2: 440)

Vor allem zwei Stolpersteine sind es – wie Frank Ruda im Vortrag zeigte -, die einer befriedigenden allumfassenden gesellschaftlich versöhnten Harmonie in Hegels Rechtsphilosophie im Weg stehen: die Armut und der Pöbel.

Die bürgerliche Gesellschaft

Die Armut ist für Hegel ein besonderes Problem der modernen bürgerlichen Gesellschaft. Die „bürgerliche Gesellschaft“ ist dabei bei Hegel ein genau festgelegter Begriff. (In den immerhin öffentlichen Vorträgen vermisse ich solche erläuternden Inhalte, die Nicht-Hegel-Spezialist_innen ein wesentlich besseres Verständnis ermöglichen könnten). Hegel kennzeichnet damit die Erscheinungswelt des gesellschaftlichen Lebens, die von der Besonderheit der Individuen ausgeht. Natürlich stehen auch die besonderen Individuen in gemeinschaftlichen Beziehungen, in rechtlichen, ökonomischen und öffentlichen. Aber diese Beziehungen erreichen eine aus Hegels Sicht nur unvollkommene Allgemeinheit. Diese ist ein „System allseitiger Abhängigkeit“ (HW 7: 340), aber die Teile dieses Ganzen sind nicht selbst durch das Allgemeine bestimmt sondern enthalten selbstsüchtige Willkür und Zufälligkeit.

In der Sphäre der bürgerlichen Gesellschaft ist jeder Besondere nur sich selbst Zweck, „alles andere ist ihm nichts“ (339). Hegel entwickelt aus den Widersprüchen dieser Sphäre die höhere, jene des „Staats“, in welchem das besondere Individuum an das Allgemeine so zurück gebunden ist, dass es im „Wissen, Glauben und Wollen des Allgemeinen“ „seine Freiheit hat und genießt“ (HW 12: 55). (Wichtig ist, dass auch der „Staats“-Begriff wirklich entsprechend dem Hegelschen Begriff gefasst wird und nicht entsprechend einer anderen Konzeption).

Bereits im Vortrag von Klaus Vieweg wurde darauf verwiesen, das die Ebene der Wirtschaftstätigkeit („System der Bedürfnisse“, HW 7: 346ff.) lediglich die unentwickeltste Form der bürgerlichen Gesellschaft ausmacht. Deren Mängel und Widersprüche werden aufgehoben in der Ebene der Rechtspflege (HW 7: 360ff.) und erst recht in jener der öffentlichen Institutionen (bei Hegel „Polizei und Korporation“ genannt, HW 7: 382ff.). Das marktliberale „System allseitiger Abhängigkeit“ steht also nicht als Weisheit letzter Schluss in Hegels Gesellschaftstheorie, sondern findet eine Fundierung bzw. kritische Weiterentwicklung in übergeordneten (später im Text entwickelten) gesellschaftlichen Bereichen.

Dieser Durchgang durch die Hegelsche Theorie in Richtung Verwirklichung der „Sittlichkeit“ im „Staat“ findet jedoch Widerhaken, auf die Frank Ruda sich in seinem Vortrag konzentrierte.

Armut

Die Armut ist jene klaffende Wunde, an der sich die Widersprüchlichkeit der bürgerlichen Gesellschaft zeigt.

„Die wichtige Frage, wie der Armut abzuhelfen sei, ist eine vorzüglich die modernen Gesellschaften bewegende und quälende.“ (HW 7: 390)

Ruda erklärte, dass Hegel davon ausgeht, dass die moderne bürgerliche Gesellschaft ab einer bestimmten ökonomischen Entwicklungsstufe nicht mehr in der Lage ist, ihr eigenes Prinzip widerspruchsfrei aufrecht zu erhalten: Für alle gilt gleichermaßen, dass sie sich durch Arbeit erhalten sollen. Aber die Möglichkeit an der Teilnahme am allgemeinen Vermögen und der Arbeit für ihren Erwerb ist höchst ungleich verteilt (HW 7: 353). Diese ungleiche Verteilung trifft auf die Einzelnen in willkürlicher, zufälliger Weise (ebd.: 387). Es kommt vor, dass Menschen die „natürlichen Erwerbsmittel“ entzogen sind und sie in Armut verfallen (ebd.: 388). Angesichts der „fortschreitender Bevölkerung und Industrie“ schließlich verschärft sich der Widerspruch zwischen der „Anhäufung der Reichtümer“ bei den einen und der „Abhängigkeit und Not“ der anderen (ebd.: 389). Erst vor einigen Tagen hatte ich ein Interview mit Jeremy Rifkin gelesen. 1995 waren 800 Millionen Menschen auf der Erde erwerbslos, 6 Jahre später schon mehr als eine Milliarde.

„Bis 2010 werden nur noch zwölf Prozent der arbeitenden Bevölkerung in Fabriken gebraucht. Bis 2020 werden es weltweit nur noch zwei Prozent sein.“ (Rifkin 2005)

Aus der Erkenntnis: „Langfristig wird die Arbeit verschwinden“ folgert er:

„Ich sehe zwei Alternativen für unsere Zukunft. Die eine ist eine Welt mit Massenarmut und Chaos. Die andere ist eine Gesellschaft, in der sich die von der Arbeit befreiten Menschen individuell entfalten können.“ (ebd.)

Bisher erleben wir nur die erste Alternative, wie sie schon Hegel beschrieb. Derzeit ist die Erwerbsarbeitslosigkeit zumindest bei uns noch nicht immer mit bitterer Not verbunden, sondern hat durchaus auch etwas Befreiendes; sie schenkt uns Zeit z.B. für solche Vortrags-Nacharbeiten. Auch Hegel erkannte dies, aber auch den Pferdefuß dieser Freistellung von der gesellschaftlichen Arbeit:

„Da tritt nun mitten in dieser industriellen Bildung und dem wechselseitigen Benutzen und Verdrängen der übrigen teils die härteste Grausamkeit der Armut hervor, teils, wenn die Not soll entfernt werden, müssen die Individuen als reich erscheinen, so daß sie von der Arbeit für ihre Bedürfnisse befreit sind und sich nun höheren Interessen hingeben können. In diesem Überfluß ist dann allerdings der stete Widerschein einer endlosen Abhängigkeit beseitigt und der Mensch um so mehr allen Zufälligkeiten des Erwerbs entnommen, als er nicht mehr in dem Schmutz des Gewinnes steckt. Dafür ist er nun aber auch in seiner nächsten Umgebung nicht in der Weise heimisch, daß sie als sein eigenes Werk erscheint. Was er sich um sich her stellt, ist nicht durch ihn hervorgebracht, sondern aus dem Vorrat des sonst schon Vorhandenen genommen, durch andere, und zwar in meist mechanischer und dadurch formeller Weise produziert und an ihn erst durch eine lange Kette fremder Anstrengungen und Bedürfnisse gelangt.“ (HW 13: 337)

Der Pöbel

Zum sog. Pöbel können arme Menschen bei Hegel „durch die mit der Armut sich verknüpfende Gesinnung, durch die innere Empörung gegen die Reichen, gegen die Gesellschaft, usw.“ (HW 7: 389) werden. Diese Gesinnung ist davon gekennzeichnet, dass sie der Regierung und den Verhältnissen die Legitimität abspricht und sogar fordert, in der eigenen Existenz erhalten zu werden, ohne zu arbeiten. Während die Armut aus den Verhältnissen der bürgerlichen Gesellschaft notwendig folgt, so ist die Pöbelgesinnung nicht in gleicher Weise ableitbar.

In den Mitschriften zur Vorlesung zur Philosophie des Rechts von 1821/22 wird noch ausführlicher geäußert:

„Was den Pöbel ausmacht, ist eigentlich die Gesinnung, das Gefühl der Rechtlosigkeit, und die Erzeugung des Pöbels setzt voraus einen Zustand in der bürgerlichen Gesellschaft, in dem jeder Rechte hat; in der bürgerlichen Gesellschaft hat jeder den Anspruch, durch seine Arbeit zu existieren; erlangt er nun durch seine Tätigkeit dies Recht nicht, so befindet er sich in einem Zustand der Rechtlosigkeit, er kommt nicht zu seinem Recht, und dies Gefühl ist es, das diese innere Empörung hervorbringt.“ (PR 1921/222: 222)

Damit unterscheidet sich Hegels Bestimmung des Pöbels auffallend von derjenigen Kants, bei dem Menschen dann zum Pöbel (vulgus) verkommen, wenn die gesellschaftlichen Bindungen wegfallen.

Bei Hegel kann jeder Arme zum Pöbel werden und da auch jeder Mensch arm werden kann, spricht Ruda von einer „doppelten Latenz“: Jeder ist latent arm und latent Pöbel. Man könne sogar von einer „universellen latenten Pöbelhaftigkeit eines jeden in der bürgerlichen Gesellschaft“ sprechen.

Neben dem schon genannten Pöbel der Armen gibt es auch einen „reichen Pöbel“ (PR 1821/22: 222). Dieser Luxuspöbel erzielt seinen Gewinn etwa durch Spiele. Beide Pöbelarten werden durch Hegel kritisiert wegen ihrer Selbstsüchtigkeit und der mit der Partikularität verbundenen Unvernünftigkeit. Der reiche Pöbel jedoch unterscheidet sich in einem wichtigen Punkt vom Armen: er empört sich nicht.

Arme jedoch, denen die Möglichkeit verwehrt ist, sich durch Arbeit am Leben zu erhalten, können auf die Idee kommen, dass sie das Recht auf Leben und Freiheit auch ohne Arbeit haben könnten.

Hegel sieht zwar die Tendenz zum Anwachsen der Armut und die Möglichkeit des Entstehens von Pöbel – für ihn ist das eine Gefahr, der begegnet werden muss. Der Verlust der Arbeit wäre auch ein Verlust an Allgemeinheit und Vernünftigkeit und wirft den Einzelnen in Partikularität und Unvernunft zurück.

Recht ohne Recht

Hegel deutet an, dass der Mangel in der Gesellschaft die „Form eines Unrechts“ erhält, aber er kann nicht zugeben, dass die bürgerliche Gesellschaft als Ganzes in „gigantischer Unrechtszusammenhang“ (Ruda) ist. Die Armen befinden sich im Zustand der Rechtlosigkeit (sie kommen nicht zum Recht der Subsistenz und auf Verwirklichung der Freiheit), der aber als Zustand des Rechts (der bürgerlichen Gesellschaft) ausgegeben wird. „Recht ohne Recht“- so nennt Frank Ruda dies. Der Pöbel scheue sich nicht vor diesem Urteil, das Hegel scheut…

Universalität in der Empörung?

Frank Ruda stellte, über Hegel hinausgehend, die These in den Raum, dass auch in der Partikularität des armen Pöbels eine Universalität latent enthalten sei. Einerseits empört sich jeder als Stellvertreter der gesamten Menschheit und er empört sich, weil die Universalität seiner möglichen Freiheit beschnitten wird.

Die Empörung des Pöbels ist nicht nur Ausdruck der Frustration, sondern er ist Ausdruck von Selbstrespekt, der fordert, was ihm die Gesellschaft verwehrt: die Realisierung von Freiheit. Armut als Zustand des Mangels an Möglichkeit hinsichtlich der Verwirklichung von Freiheit (das soll Hegel in der „Realphilosophie“ so geäußert haben) ist eine Empörung gegen die Natur der bürgerlichen Gesellschaft, sie ist eine universale Empörung gegen die Gesellschaft „ohne wirkliche Allgemeinheit“.

Interessant ist auch der Hinweis, dass in der Armut alle Vorteile der bürgerlichen Gesellschaft verloren gehen, die entsprechenden Bedürfnisse aber bleiben. Ruda verwies auf die Vorkommnisse während der Londoner Krawalle vor einem Jahr: Die Plündernden, die Unterhaltungselektronik aus den Geschäften klauten, machten lediglich Ernst mit den Versprechungen der Gesellschaft und nahmen sie beim Wort: „Enjoy…“, „Konsumiere…“ !!!

Frank Ruda beendete den Vortrag mit einer Frage. Er hatte zuvor auf Lacan verwiesen, bei dem von der Angst ein Übergang zum Mut erfolgt. In entsprechender Weise muss von der Empörung aus auch weiter gegangen werden. Was ist das entsprechende Weiterführende? Enthusiasmus?

Was wäre eine positive Qualifizierung für das, was auf die Empörung folgt als nicht mehr nur latente Universalität sondern aktuale Universalität? Und welcher Affekt würde freigesetzt, wenn sich das realisiert?

Ruda verwies auf die „Korporationen“ als Weise, wie sich die Gemeinschaft bei Hegel organisieren kann, um der Instabilität der Gesellschaft etwas entgegen zu setzen.

In Nebenbemerkungen verwies Ruda auch auf die marxistische Weiterführung dieser Ansätze: Hier geht es darum, die universale Dimension in einer Form einer Organisation, die keinen Ausschluss kennt, zu erringen. „Es stellt sich die Frage nach einer anderen Form der gesellschaftlichen Praxis, in der der Anspruch nach Existieren ohne Arbeit verwirklicht ist.“

Antwort (von mir bzw. den Menschen, die dieses Konzept entwickeln): Commonsbasierte Peer-Produktion. Struktuell denke ich, dass im umfassenden Hegelschen Konzept der „Sittlichkeit“, das ja weit über die Sphäre der „bürgerlichen Gesellschaft“ hinaus geht, noch mehr Potential zum Vor-Denken von Strukturen von einer Gesellschaft vernünftig-freier Menschen steckt.

Ich möchte diesen Beitrag mit einem Gedicht von Hegel abschließen, das jeglichem Vorwurf, er sei ein den preußischen Staat verherrlichender reaktionärer Philosoph gewesen, die letzte Glaubwürdigkeit nehmen sollte. Er schrieb es kurz vor seinem Tod:

Willkommen mir des Freundes Grüßen!
Nicht Gruß nur, Fordrung von Entschlüssen
Zu Worthestat, um zu beschwören
Die Vielen, Freunde selbst auch, die zum Wahnsinn sich empören.

Doch was ist ihr, die Du verklagst, Verbrechen,
Nur dass sich jeder selbst will hören, obenan zu sprechen;
So wär‘ das Wort, dem Uebel abzuwehren,
Selbst nur ein Mittel, dies Unheil noch zu mehren.

Und käm`s, wie’s längst mich drängt, doch loszuschlagen,
So wär‘ Dein Ruf ein Pfand, es noch zu wagen,
Mit Hoffnung, dass noch Geister ihm entgegenschlagen,
Und dass es nicht verhall‘ in leere Klagen,
Dass sie’s zum Volk, zum Werke tragen!

Hegel
(Vom Schlößchen am Kreuzberge
27.8.1831)