Gehen wir einmal davon aus, dass sich „historische Missionen“, „führende Rollen“ und „Avantgarde-Ansprüche“ durch Menschengruppen, die fortschrittlicher sein wollen als andere, erledigt haben. Nun sind viele Menschen geneigt, dem eher liberalistischen Grundprinzip zuzustimmen, nach welchem die Freiheit jedes einzelnen Menschen jeweils nur durch die Freiheit der anderen Menschen begrenzt werden kann. Marx kritisiert diese Vorstellung jedoch als beschränkt:

„Die Freiheit ist also das Recht, alles zu tun und zu treiben, was keinem andern schadet. […] Es handelt sich um die Freiheit des Menschen als isolierter auf sich zurückbezogener Monade.“ (Marx: MEW 1/JF: 364)

Bei dieser Position werden Menschen vorausgesetzt, die den Mitmenschen grundsätzlich eher als Gefahr für die eigene Freiheit verstehen statt als Bereicherung des Lebens.

Menschen sind natürlich gesellschaftlich

Im heutigen politischen Vorstellungsvermögen scheint das Bild des einzelnen, isolierten und auf sich bezogenen Individuums als alleinige Quelle von Selbstbestimmung und Freiheit beinah alternativlos. Gegenüber diktatorischen Herrschaftspraxen ist die Verteidigung der Freiheit des Individuums natürlich berechtigt. Das absolute Gegenteil ist jedoch keine vernünftige Alternative, sondern eine Falle. Das Bild des vereinzelt und nur für sich freien Menschen passt zur gegenwärtigen Herrschafts- und Unterdrückungspraxis wie der Deckel auf den Topf: Die sachlich-abstrakten Kapitalverwertungszwänge setzen das vereinzelte Individuum voraus und erzeugen es ständig wieder. In gesellschaftlichen Verhältnissen, in denen die Menschen grundsätzlich als Konkurrenten um Lebenschancen agieren müssen, agieren sie als vereinzelte Wesen – sie sind dies aber nicht „von Natur aus“. Zum Menschen wird jedes Individuum durch das, was es mit allen anderen Menschen teilt. Erst unter konkurrenzförmigen Bedingungen ist es ihr Vereinzeltsein, das sie teilen. Vereinzelt zu sein ist die Folge konkreter gesellschaftlicher Verhältnisse.

Abgesehen von den Beziehungen, in denen sich die Menschen nur über „adäquate Austauschverhältnisse“ aufeinander beziehen, streben wohl alle nach Freundschaft und Liebe. Liebe und Freundschaft erhalten auch vor allem deswegen so einen hohen Stellenwert, weil sie die kalte Konkurrenzwelt erträglicher machen und kompensieren sollen. Aber schon hier steckt mehr dahinter: Wenn Menschen sich freundschaftlich begegnen, brauchen sie mehr als ein wechselseitiges Gefallen, sie brauchen ein gemeinsames Projekt, wie auch schon Hegel feststellte [1]:

Freundschaft beruht auf Gleichheit der Charaktere, besonders des Interesses, ein gemeinsames Werk miteinander zu tun, nicht auf dem Vergnügen an der Person des anderen als solcher.“ (Hegel NHS: 271)

Die Freunde müssen zwar ebenbürtig sein, aber auch unterschiedlich genug, so dass aus ihrer Gemeinsamkeit ein „Akkord“ unterschiedlicher Klänge entstehen kann.

Und in der Liebe will ich nach Hegel gar keine selbständige Person mehr für mich sein, sondern ich will „mich in einer anderen Person gewinne[n]“ (Hegel HW 7: 308).

Freundschaftliche Verbundenheit und wahre Liebe schränken deshalb auch Freiheit nicht ein:

„Freie Menschen lassen sich auf etwas ein, was ihnen nominell ihre Freiheit nehmen müsste – sie lassen sich durch einen anderen in ihrem Handeln bestimmen – , tatsächlich aber ihre Freiheit bestärkt und noch mehr als das, sie auch mit Grund und Ziel versieht.“ (Gessmann 1999: 31)

Es gibt eine Verbundenheit zwischen Individuen, bei denen die Individuen als Besondere sich gegenseitig wesentlich sind; der eine will, was zum Wohle des anderen beiträgt (Gessmann 1999: 123).

Wahre Freiheit ist deshalb nach Marx nicht durch die Absonderung voneinander erreichbar, sondern sie basiert auf der Verbindung der Menschen miteinander (Marx: MEW 1/JF: 364).

Warum jedoch soll dies nur für Freundschaft und Liebe gelten, für Politik und Wirtschaft nicht? Für den Familien- und Freundeskreis sind solche Vorstellungen noch gut vorstellbar, weil wir sie auch erleben können. Anders sieht es im gesellschaftlichen Rahmen aus. Hier gilt grundsätzlich auch, dass die Produktion der notwendigen Güter ein „gemeinsames Werk“ darstellt, bei dem wir nicht als getrennte Personen interagieren, sondern uns als individuelle Menschen erzeugen und entfalten. Dies geschieht gegenwärtig allerdings in einer Form, in der auch die kooperativen Anteile unserer Zusammenarbeit im Dienste der Profiterwirtschaftung stehen und nicht Selbstzweck sein dürfen. Uns eint, dass wir alle zusammen unsere Lebensbedingungen in gesellschaftlich-kooperativer Arbeit immer wieder neu erzeugen – – aber dies ist in dieser Form häufig nicht unmittelbar erlebbar. Das Denken kann das direkt Erlebte allerdings überschreiten und erkennen: Menschliche Individuen leben, indem sie eingebunden sind in den Prozess der „kollektive[n] vergegenständlichende[n] Naturveränderung und Kontrolle von Naturkräften zur vorsorgenden Verfügung über die gemeinsamen Lebensbedingungen“ (Holzkamp 1983, S. 176f.). Von dieser „gesellschaftlichen Lebensgewinnung“ ist immer wieder auszugehen und von hier aus erweist sich jedes isolierte Dasein als eins, das dieser Bestimmung des Menschlichen widerspricht. „Normal“ ist nicht das vereinzelte Dasein, sondern das verbundene. Zu erklären ist nicht, wie isolierte Menschen zusammen kommen – erklärungsbedürftig ist, wenn Menschen nicht von vornherein unmittelbar gesellschaftlich leben können und warum sie das aus welchen Gründen heraus unter bestimmten Bedingungen nicht tun können.

Jeder Mensch ist „natürlich gesellschaftlich“. Letztlich hat sich diese Eigenart des Menschlichen während der Entstehungszeit der Menschen aus vormenschlichen Vorfahren heraus entwickelt und in die genomische Information „eingeschrieben“ (vgl. ebd.: 178f.). Menschen sind durch ihre biotische Natur auf eine gesellschaftliche Lebensgewinnung orientiert.

Menschen, wo und wie immer sie auf der Erde leben, befriedigen ihre Bedürfnisse durch ihre Beteiligung an der „bewußte[n], vorsorgende[n] Verfügung über gemeinsame Lebensbedingungen durch kollektive Arbeit“ (ebd.: 184). Beteiligung verlangt nicht unbedingt das direkte Mit-Produzieren, sondern auch die Mitversorgung von Einzelnen durch Andere ist darin enthalten. Diese Art der Bedürfnisbefriedigung wirkt sich nicht nur direkt physiologisch aus, sondern sie erzeugte im Verlauf der Evolution auch entsprechende neurologische und psychische Strukturen, die auf dieser Ebene erklären, „warum wir von Natur aus kooperieren“.

Die Beschränkung ist erklärbar

Da wir nun gegenwärtig diese grundlegende Bestimmung des Menschlichen, die kollektive Verfügung über die gemeinsamen Lebensbedingungen, nicht unmittelbar in der Gesellschaft erleben, müssen wir nach Erklärungen dafür suchen. Diese liegen in den konkreten gesellschaftlichen Verhältnissen begründet. Im Kapitalismus verfügen die wenigsten Individuen und Gruppen über jene Ressourcen und Produktionsmittel, die sie zur Erzeugung der Güter für ihre Bedürfnisbefriedigung brauchen. (Das war in vielen Gebieten auch schon vor dem Kapitalismus so – aber hier betrachten wir nur die heute vorherrschende und sich gerade global durchsetzende Produktions- und Lebensweise, den Kapitalismus.)

Arbeit in Form von Lohnarbeit setzt voraus, dass die Arbeitskräfte nicht die Eigentümer der Ressourcen und Produktionsmittel sind, sondern von ihnen getrennt sind (durch „Einhegung der Allmende“ und durch die Inbesitznahme der erzeugten Güter durch die „Kapitalgeber“). Gearbeitet wird nur, wenn die Eigentümer der Ressourcen und Produktionsmittel neben den anderen „Produktionsfaktoren“ auch die Arbeitskräfte „kaufen“, was sie nur dann tun, wenn sie aus dem Verkauf der erzeugten Waren Profit erwarten. „Es muss sich rechnen“ – heißt hier nicht nur, dass Ressourcen ersetzt werden und der Nutzen in einem angemessenen Verhältnis zum Aufwand steht, sondern dass ausreichend viel Profit erzeugt wird (was „ausreichend“ ist, ergibt sich aus den gegebenen Konkurrenzbedingungen).

Die Produktionsmitteleigentümer müssen, solange sie als solche entscheiden (also quasi als „Charaktermasken“ des Kapitals, vgl. MEW 23/Kap: 99-100), der Logik der Kapitalakkumulation folgen. Auf diese Weise zeigt sich die gesamtgesellschaftliche Dynamik den einzelnen Menschen gegenüber, ob sie Arbeiter oder Kapitalisten sind, als verselbständigter Sachzwang (vgl. MEW 23/Kap: 85f.) und die Menschen stehen einander als Konkurrenten auf dem Waren- und insb. dem Arbeitskräftemarkt gegenüber. Nur deswegen wird die Gesellschaft „ein dem Individuum äußerlicher Rahmen […]“ (MEW 1/JF: 366) und nur deswegen stehen die Menschen einander strukturell feindlich gegenüber. Damit erweist sich der Kapitalismus als „spezifisches gesellschaftliches Unterdrückungsverhältnis, in welchem die Masse der Individuen von der kollektiven Verfügung über ihre Lebensbedingungen ausgeschlossen und auf ihr privates, individuelles Dasein zurückgeworfen ist“ (Holzkamp 1980: 212, kursiv A.S.). Daraus entsteht die „Vorstellung von dem pluralistischen Kräftespiel zwischen organisierten Partikularinteressen“ (ebd.)

In einem Blogbeitrag fand ich gerade ein passendes Zitat von Richard David Precht hierzu:

„Markt und Markenwirtschaft erzeugen kein Zusammengehörigkeitsgefühl, sondern moralische Zeitarbeiter ohne Milieubindung.” (Precht)

Solange wir diese Vereinzelung der Individuen gegeneinander und die Trennung ihrer Gesellschaftlichkeit von ihrer Individualität nicht überwinden, gelingt uns kein Ausweg. Weder zu denken, noch zu realisieren.

Die Alternative besteht darin, das Gemeinsame, das allen Menschen Allgemeine neu zu denken und zu verwirklichen.

Mehr dazu im nächsten Teil.

Endnoten:

[1] Vgl. zur Entwicklung des sozialphilosophischen Denkens von Hegel in http://www.thur.de/philo/hegel/hegel22.htm