Der zweite Auftaktvortrag zur Veranstaltungsreihe „Hegel in Transformation“ von Hartmut Rosa beschäftigte sich dem Thema einer „Soziologie der Weltbeziehung“. Meine Referierung ist wieder nicht als perfekte Wiedergabe des Gesprochenen zu verstehen, sondern ist durch meine Wahrnehmung und Interpretation „gebrochen“.

Hartmut Rosa stellte gleich zu Beginn dar, dass er sich in der Hegelschen Philosophie nicht immer genau auskennt – dass er aber einige Kategorien und auch Stellen gefunden hat, bei denen er einen Bezug zu seinem Thema gefunden hat. Er sprach davon, dass er „von Hegel eigentlich keine Ahnung“ habe, aber mit einem Augenzwinkern meinte er, dass er beschlossen habe, seine „eigenen Gedanken einfach als hegelsch auszugeben“. Schauen wir mal, was dabei entstanden ist:

Sein Thema ist die „Soziologie der Welterfahrung“, d.h. eine „Theorie, die das Zusammentreffen von Menschen und Welt analysiert“. Dabei machen die Menschen gegenteilige Erfahrungen, die mit den Begriffen „Entfremdung“ und „Resonanz“ bezeichnet werden können.

Bei Hegel fand H. Rosa „Entfremdung“ und „Anerkennung“ als Grundmodi der Erfahrung.


Entfremdung

Mit der „Entfremdung“ wird eine Erfahrung beschrieben, die Menschen insbesondere seit Beginn der bürgerlichen Moderne machen. Das vorbürgerliche Individuum wird von C. Taylor noch so beschrieben, dass sein Selbst „porös“ gegenüber der Welt war, dass noch keine klare Trennung zwischen Selbst und Welt vorlag. Das moderne Selbst dagegen ist „abgepuffert“, es schiebt eine Trennung zwischen sich und Welt.

Eine Reinterpretation dieser Gegebenheit kann ich mir hier nicht verkneifen: Es handelt sich wohl eher darum, dass das Individuum im Verlauf der sog. ursprünglichen Akkumulation zwangsweise „von Grund und Boden gewaltsam“ expropriiert, verjagt „und zum Vagabunden“ gemacht wurde (MEW 23: 765) und auf diese Weise das bürgerliche Individuum als Vereinzeltes, Isoliertes entstand. Alfred Flacke beschreibt die entstandene Situation:

„Das System kapitalistischer Lohnarbeit […] überantwortete […] die so Befreiten der endgültig als Selbsterhaltung ausgegebenen individuellen Sorge um den eigenen Lebensunterhalt […].“ (Flacke 2009: 37)
„Individualität bedeutet jetzt also, das der Mensch sich als eigenständig und von der Gemeinschaft abgetrennt wahrnimmt, weil und indem er sich […] Güter privat aneignen muss und kann.“ (ebd.: 49)

Eine Weiterführung dieses Gedankens müsste der Widersprüchlichkeit dieser so entstandenen Individualität nachgehen, wobei sich zeigt, dass die „Freiheit“ des bürgerlichen Individuums nur eine abstrakte ist und zur vollen Konkretisierung anderer gesellschaftlicher Verhältnisse bedarf…

Ich will hier aber keine eigene Abhandlung anschließen, sondern mit der Referierung des Vortrags weiter machen. H. Rosa meinte, dass er methodisch immer ganz nah an den Erfahrungen ansetzt und für die Entfremdung nannte er folgende Erfahrungsbedeutungen: Entfremdet fühle ich mich, „wenn mir etwas nicht passt“, wenn „ich mich nicht zu Hause fühle“. Entfremdung ist auch, wenn ein Prozess, der zu uns gehörte, uns fremd, kalt, äußerlich, gleichgültig oder gar widerwärtig wird. Die depressive Befindlichkeit ist eine Form von Entfremdung. Es herrscht eine „Beziehung der Beziehungslosigkeit“ (Jaeggi). Eine gewisse Entfremdung von der Herkunftswelt ist – auch nach Hegel – während der Adoleszenz notwendig.

Hartmut Rosa definiert Entfremdung als Misslingen der Weltaneignung und sie entsteht aus dem eigenständigen (nicht erzwungenen) Handeln in einem nicht angeeigneten Kontext. Sie zeigt sich vor allem dann, wenn ich etwas freiwillig tue/will, was ich nicht „wirklich“ tue/will. Er ist z.B. nicht Wissenschaftler geworden, um lange Anträge für Geldbewilligungen zu schreiben oder gar Leute zu entlassen. Studierende können sich entfremdet fühlen, wenn sie Essays schreiben (müssen), die sie eigentlich sinnlos finden…

Nur beiläufig, auch in Erweiterung des Vortragsinhalts von Klaus Vieweg, erwähnte Rosa die Marxsche Analyse der kapitalistischen Verhältnisse. Die herrschenden gesellschaftlichen Verhältnisse sind nicht bloß einfach Marktbeziehungen, sondern der kapitalistische Markt ist durch den Zwang zur Kapitalakkumulation (also G-W-G´) gekennzeichnet. Mit der darin enthaltenen Eskalationslogik (deren Beschleunigungseffekte er soziologisch untersucht hat) haben die Entfremdungserfahrungen zu tun. Leider führte er dies dann nicht näher aus, sondern blieb beim Phänomenologischen.

Auf dieser Ebene suchte er dann auch nach Alternativen.

Anerkennung

Eine mögliche alternative Form von Welterfahrung findet H. Rosa bei Hegel in der
„Anerkennung“ vor und interpretiert diese als „Grundvoraussetzung für Freiheit“. Freiheit wird dabei bestimmt als „im Anderen ganz bei sich selbst zu sein“, d.h. die Entfremdung (als Subjekt/Objekt-Spaltung) zu überwinden. Anerkennung könnte also die Kategorie sein, mit der die gelingende Form der Weltbeziehung beschrieben wird als eine Form der Realisierung von Freiheit.

Wie wir gleich sehen werden, übernimmt H. Rosa diesen Gedanken nicht, sondern sucht weiter nach anderen Gegenbegriffen zur Entfremdung. Ich möchte aber hier noch etwas zur „Anerkennung“ einschieben. So ergänzte Klaus Vieweg in der Diskussion, dass Anerkennung nur ein Moment von Freiheit sein könne. Anerkennung bezieht sich immer auf einen intersubjektiven Vorgang (so dass z.B. Beziehungen zur Natur keine der Nicht-/Anerkennung sein können). Freiheit als „im Anderen bei sich sein“ ist mehr als Anerkennung.

Die Dissertation von Alfred Flacke (2009) beschäftigt sich ausdrücklich mit dem Thema der „Anerkennung“ bei verschiedenen Autoren, insb. Hegel. Flacke zeigt, dass der frühe Hegel nach der Liebe als dem Prinzip, mit dem sich ein autonomes Subjekt im Anderen finden kann, in der Anerkennung „die Chance der Überwindung der Trennung“ (50) gesucht hatte („Das Wort der Versöhnung ist […] ein gegenseitiges Anerkennen […].“ (HW 3: 493)). An anderer Stelle jedoch wird deutlich, dass Hegel letztlich doch ein isoliertes Individuum unterstellt, denn er bindet die Personalität an Privateigentum, das er als „erste Weise der Freiheit“ (HW 7: 91) betrachtet. Von dieser Position aus bestimmt sich der Kampf um Anerkennung als toddrohendes Unterfangen und ist „auf den Tod des Andren“ gerichtet (HW 3: 148). Kapitalistische Konkurrenz eben. Flacke kennzeichnet Anerkennung deshalb als Herrschaftsmechanismus, der die „notwendige Beziehung der auf Kooperation angewiesenen Gesellschaft ohne die tatsächlich zerstörte Gemeinschaft herstellen soll und zwar durch eben diese gemeinschaftszerstörende Herrschaft“ (Flacke 2009: 90).

Auch Axel Honneth (der Doktorvater von Hartmut Rosa), der im Kampf um Anerkennung vorwiegend die Entfaltung einer autonomen Selbstverwirklichung sieht, setzt Konkurrenz voraus und naturalisiert damit bestimmte gesellschaftliche Verhältnisse. In diesen Verhältnissen ist Anerkennung zu verstehen als „prekäre Sicherung des individualisierten Überlebens (des Herrn und des Knechts) durch aktiv ausgeübte oder passiv hingenommene und so immer wieder neu installierte, gemeinschaftszerstörende Herrschaft“ (Flacke 2009: 155).

Resonanz

Auch für Hartmut Rosa ist die Anerkennung nicht die Antwort auf die Frage nach dem Gegenbegriff zur Entfremdung. Er stellte andere Antwortversuche vor und verwies jeweils auf deren Mängel:

  • Die „wahre Natur“ oder die Essenz (das Wesen) als Gegenbegriff – ist unhaltbar.
  • „Authentizität“ (Heidegger, Taylor…) als Übereinstimmung mit dem eigenen inneren Kern – ist unhaltbar, weil/falls es diesen „inneren Kern“ nicht gibt.
  • „Autonomie“ (Jaeggi…) = Selbstbestimmung, Kontrolle über die Umstände – ist unhaltbar, weil sich ja auch Diktatoren „entfremdet“ fühlen können – Sklaven und Liebhaber dagegen „ganz bei sich selbst“
  • Leben gemäß den eigenen starken und schwachen Wertungen (Taylor) …
  • Übereinstimmung zwischen Habitus und Umwelt…(Bordieu)
  • Anerkennung (Honneth)…

Ich fand diese Zusammenstellung sehr interessant. Sie zeigt die Suchbewegung nach Alternativen zum Gegebenen.

Hartmut Rosa selbst meint, die Alternative in der Kategorie „Resonanz“ gefunden zu haben. Dazu gibt es auch ein schönes Interview in der taz. Resonanz versteht er als „Zustand, bei dem einem die Außenwelt nicht mehr als fremd erscheint“. Resonanzerfahrungen geschehen, wenn eine Verbindung als lebendig, als resonant erscheint. Als Beispiele nannte er das Gefühl, wenn man angelächelt wird, sobald man die Cafeteria betritt oder wenn man beim Musikhören „ganz bei sich selbst“ ist. Ein anderes interessantes Beispiel war dasjenige von Kindern, die häufig besonders die traurigen Märchen „schön“ fanden. Warum können traurige Geschichten schön sein? Weil sie als berührend erlebt werden, weil sie Resonanz erzeugen.

Mit der Resonanz sind, wie wir an den Beispielen mit der Musik und den Märchen sahen, nicht nur intersubjektive Beziehungen angesprochen, sondern sie gibt es auch im Bereich der ästhetischen Erfahrungen, der Natur und die Wirkung der Religion erklärt sich ebenfalls durch gelungene Resonanzerfahrungen.

Resonanzerfahrungen gehören zu einem gelingenden Leben. Hartmut Rosa schloss damit auch einen Kreis zu seiner Arbeit als Soziologe: auch zur Arbeit gehört normalerweise das Erleben von Sinn und dies zeigt sich als Resonanz. Das Fehlen von Resonanz wird dann als problematisch erlebt, einerseits im Fall der Arbeitslosigkeit als Verlust des Sinns, und andererseits im Fall der Überlastung und wenn man seine Arbeit aus verschiedenen Gründen heraus nicht gut machen kann.

Die Resonanzerfahrung soll als „Maßstab für Handlungsoptionen“ (in taz) wirken und ihr Vorteil gegenüber anderen Handlungskriterien ist ihre inhaltliche Offenheit. Sie gibt nichts vor, ist nicht normativ.

In der Diskussion wurde daran anschließend auch danach gefragt, ob H. Rosas Konzept ohne „Menschenbild“ auskomme. Schließlich hatte er so etwas wie eine „menschliche Natur“ oder eine Essenz als Gegenkonzept zur Entfremdung ausdrücklich abgelehnt. In der Antwort gab H. Rosa zu, dass auch er so etwas wie „schwache“ anthropologische Annahmen voraussetzen muss, so die Annahme: „Menschen sind konstitutiv auf soziale Resonanz angewiesen.“ Das zeigt sich wenigstens an den zerstörerischen Folgen, wenn diese Resonanz nicht vorhanden ist. Dabei lässt er aber „offen, was die Resonanzerfahrung auslöst“, dies kann individuell oder auch kulturspezifisch verschieden sein.

Dazu gehört auch, dass nicht ein anderer Mensch für einen anderen einschätzen kann, ob dieser sich entfremdet oder resonant fühlt. In einer Frage war problematisiert worden, ob nicht das Problem häufig eher darin bestehe, dass eine vorhandene Entfremdung von dem Betroffenen gar nicht gefühlt wird. Ein Formel-1-Fahrer kann behaupten, nicht entfremdet zu sein – aber das „Im-Kreis-rumfahren“ ist doch „in Wirklichkeit“ ein entfremdetes Tun. Dies sieht H. Rosa nicht so. Er geht davon aus, dass es in einem Tun, das von Menschen in solcher Weise getan wird wie das Formel-1-Fahren wenigstens auch Spuren gibt von Resonanz. Wenn das mit Entfremdung verbunden ist, kann das niemand anders bestimmen, sondern „man muss es an den Erfahrungen der Leute selbst zeigen können“. Dieses Herangehen erinnert mich an die Kritische Psychologie als Psychologie von „je mir“.

Ich weiß noch nicht so recht, was ich von dieser Theorie der Resonanz halten soll. Sie öffnet riesige Scheunentore für spirituell-esoterische Vereinnahmungen, aber ob sie gesellschaftstheoretisch tragfähig und politisch handlungsleitend werden kann, ist für mich noch offen.

Wichtiger wäre für mich eine negierende Anknüpfung an die Bestimmung von Entfremdung als Misslingen der Weltaneignung durch eigenständiges (nicht erzwungenes) Handeln in einem nicht angeeigneten Kontext. Das macht z.B. die Kritische Psychologie mit den Kategorien der restriktiven und verallgemeinerten Handlungsfähigkeit. Der Kontext muss thematisiert werden und warum wir unter den gegebenen Umständen (kapitalistische Verhältnisse) strukturell behindert werden, Resonanzerfahrungen zu gestalten und zu erleben.